Der Fhìr-Gaou

Story by greldon on SoFurry

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Am Sonntag Spätnachmittag bei einem Spaziergang durch den golden gelaubten Wald, die letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres - von denen es meines Empfinden nach viel zu wenige gegeben hat - genießend sinnierte ich darüber, dass mit dem Herbst und dem herannahenden Winter es langsam auch wieder Zeit wird für Geschichten:

Lange, gemütliche Abende mit Musik, was warmen zu trinken und was zum Lesen...

Ich liebe diese Zeit von Anfang Oktober bis Heilig Abend...

Und da Allerheiligen oder neudeutsch Helloween auch schon seine Schatten voraus wirft, dachte ich, dass diese Geschichte, die ich Euch erzählen möchte, vielleicht ganz gut passen würde.

Viel Spaß beim Lesen.


Der Fhìr-Gaou

„Ich habe keine Lust mehr. Seit Stunden laufe ich schon hinter Dir her! Und überhaupt..."

Der ältere Drache, der einige Schritte voraus lief, stieß ein leises Schnauben aus, während er einen Schritt nach dem anderen setzte und sich auf den Aufstieg konzentrierte.

Er versuchte, das fortwährende Lamentieren des jüngeren Drachens, der missmutig hinter ihm her stapfte, zu ignorieren, doch fiel es ihm von Augenblick zu Augenblick schwerer.

Ein eisiger Nordwestwind peitschte schwere, bleigraue Wolken über das bewaldete Bergland und wolkenbruchartige Regenschauer erschwerten den Aufstieg, denn der Trampelpfad war schlüpfrig; nasse Steine und Laub boten selbst scharfen Drachenkrallen kaum sicheren Halt.

„...Außerdem sehe ich nicht ein, warum wir uns hier wie dumme Bergböcke zwischen den Steinen herumdrücken, wenn uns doch Die Große Drachin je ein gesundes Paar Flügel beschert hat, mit denen wir hoch über den Wolken fliegen können und damit auch von dem Regen verschont bleiben."

Der Drache, der voran ging, blieb stehen. Die Reptilienaugen glitzerten goldgelb, als er seinen Sohn mit einem strengen Blick bedachte. Doch gleich wandte er sich wieder ab und schritt weiter voran, sich eine Antwort sparend.

„Und warum muss es gerade heute sein, bei diesem Wetter?"

Diese Frage allerdings war durchaus berechtigt. Sie waren im frühen Morgengrauen aufgebrochen und da hatte es bereits nach Regen ausgesehen. Der erste Niederschlag nach mehreren Wochen anhaltender Trockenheit. Aber der alte Drache wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, denn nur allzu wichtig dünkte es ihm, seinen heranwachsenden Sohn auf eine besondere Art der Gefahr hinzuweisen und dazu war es erforderlich, an diesen Ort zu kommen. Sein eigener Vater hatte ihn schon hierher gebracht vor unzähligen Jahren, so wie dieser von dessen Vater hierher gebracht worden war, Generation um Generation...

Als sie schließlich auf dem Berggipfel standen, breitete der alte Drache seine Flügel aus in einer alles umschließenden Geste und begann mit feierlicher Stimme zu sprechen:

„Das, was Du hier siehst, mein Sohn, um uns herum, das alles gehört zu meinem Revier. Es ist praktisch grenzenlos und eines Tages wird es Dir gehören, so wie es dann wiederum Deinem Nachwuchs gehören wird, wenn die Zeit reif ist. Aber es gibt eine einzige Ausnahme und nun merke auf, mein Sohn. Dieser Wald hier, begrenzt durch diese drei Berge...", der alte Drache deutete mit seiner Pfote in die entsprechenden Richtungen, „... ist für uns Drachen tabu. Denn in diesem Wald herrscht das absolut Böse und ein Drache, der in diesen Wald hinein gerät, wird dort nichts anderes vorfinden als Verderben und Tod."

Plötzlich war das Interesse des jungen Drachens geweckt.

„Wieso? Wer oder was lebt in diesem Wald?"

Der alte Drache schüttelte den Kopf: „Niemand hat bisher lange genug gelebt, um darüber berichten zu können. Es heißt, es sei das absolute Grauen, das ultimative Böse, so dass sich sogar Die Große Drachin von diesem Wald abgewendet hat. Manche Erzählungen berichten sogar, dass Die Große Drachin dieses Waldstück höchstpersönlich verflucht hat, daher wird dieser Wald auch der Fhìr-Gaou genannt, was so viel heißt wie der Seelenfressende Wald."

„Hmmm..."

„Halt!" rief der alte Drache, als er das jugendliche Verlangen in den Augen seines Sohnes aufblitzen sah.

Schließlich wusste er aus seiner eigenen Jugend, dass gerade in diesem Alter das Verlangen nach Abenteuern von Leichtsinn geschürt wurde.

„Mein Sohn, schwöre mir den heiligen Eid auf Die Große Drachin. Gehe niemals, hörst Du niemals, in diesen Wald. Betrete ihn unter keinen Umständen, egal, was Du hörst oder siehst. Denn alles, was Dich in diesen Wald hineinlocken könnte, ist nur Lug und Trug und wird Dich in Dein Verderben stürzen. Mein Sohn, versprichst Du mir, nein, schwörst Du, dass Du Dich für immer von diesem dunklen Ort fernhalten wirst und diese Mahnung auch weiter geben wirst an Deine Nachfahren? Schwöre es, mein Sohn, schwöre es bei Der Großen Drachin! Mein Sohn?"

Der junge Drache blickte entrückt in die Ferne, seine Schwanzspitze zuckte.

„Mein Sohn? Hast Du mich gehört?" machte sich der Alte grollend bemerkbar und erst, als er seinem Sprössling mit der Vordertatze gegen die Brust stieß, zuckte dieser zusammen und schien aus einer Art Trance zu erwachen.

„Sie ist wunderschön", sagte er leise. „Wie flüssiges Silber, und das, obwohl nicht einmal die Sonne scheint."

Wer ist wunderschön?" erkundigte sich der alte Drache. „Was hast Du dort gesehen?"

„Hmmm? Oh... nichts."

Der junge Drache reckte seine Schwingen und schüttelte sich einige Regentropfen vom Leib, denn mittlerweile hatte der Regen wieder eingesetzt.

„Du hast etwas in diesem Fhìr-Gaou gesehen, nicht wahr?" erkundigte sich der Drachenvater. „Wie ich Dir gerade gesagt habe, alles, aber wirklich alles, was Du dort siehst, ist nichts weiter als eine Illusion, die zu nichts anderem dient, als Dich ins Verderben zu locken. Also, schwöre mir den Eid, dass Du Dich von diesem dunklen Ort fernhalten wirst!"

Nachdem der junge Drache mit erhobener Tatze den Eid geschworen hatte, breiteten die beiden Geschöpfe ihre Schwingen aus und stießen sich mit ihren Hinterbeinen ab. Mit kraftvollen Flügelschlägen schwangen sie sich den Wolken entgegen, der windgepeitschte Regen fühlte sich an wie Speerspitzen, die in ihre dunkel schimmernden Schuppen drangen.

Das ist genau der Grund, warum ich nicht fliegen wollte, mein Sohn!" rief der alte Drache und beeilte sich, das warme und gemütliche Zuhause zu erreichen.

***

Viele Jahre waren seitdem ins Land gegangen und aus dem jungen Drachen war ein prachtvolles Drachenmännchen in der Blüte seines Lebens geworden und er mied bei seinen täglichen Streifzügen jenes Waldgebiet, wie er es auch noch einmal am Sterbelager seines Vaters geschworen hatte.

Die Sonne brach sich in den kupferfarbenen Schuppen, als der Drache seinen imposanten Leib, immer noch ein wenig steif von der vergangenen Nacht, aus seiner wohlig warmen Höhle schob. In dieser Nacht hatte es das erste Mal in diesem Jahr Frost gegeben und der erste Atemzug der frischen Morgenluft schmeckte eisig kalt. Der Drache streckte und lockerte seine Flügel, gähnte herzhaft und kratzte sich mit einer sichelförmigen Kralle seine Brust.

Nun ist er da, der Herbst, sinnierte er, als er seine Schnauze prüfend in den Wind hielt. Wollen doch mal sehen, was heute seinen Weg in meinen Bauch finden wird.

Er trat nun vollständig aus der Höhle heraus an den Rand des kleinen Felsplateaus und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, seine feinen Sinne arbeiteten dabei unentwegt.

Da war doch... da gab es... Der appetitliche Duft seines Frühstücks in Spe lag in der Luft. Also heute junger, zarter Bergbock.

Voller Vorfreude leckte er sich seine Lefzen und stieß sich kraftvoll von dem Felsensims ab.

Übermütig glitt er durch die Luft, durchbrach die dünne Decke der Schleierwolken und fand eine geeignete Thermik, auf der er dahin reiten konnte. Er brauchte nur ab und zu ein wenig mit seinen Flügeln Kurs korrigierend schlagen und schon war er nahe der Stelle, an der er sein Frühstück einzunehmen gedachte. Er ging in einen halsbrecherischen Jagdflug über, der seiner erspähten Beute keine Chance lassen sollte.

Noch bevor der Bock überhaupt seinen Angreifer bemerkte oder gar einen einzigen Laut ausstoßen konnte, ging er bereits mit gebrochenem Genick unter einem gewaltigen Prankenhieb zu Boden.

Er hatte sein Frühstück noch nicht einmal zur Hälfte vertilgt, als ihn ein schriller Schrei, der von den Bergwänden widerhallte, aufschreckte.

Der Drache blickte auf und schnupperte in den Wind, doch wurde ihm keinerlei Geruch zugetragen, der ihm irgendeinen Aufschluss hätte geben können, auch war weit und breit nichts zu sehen.

Erneut zerriss ein Schrei die ansonsten herrschende Stille, angsterfüllt und voller Verzweiflung. Nun war auch ein weiteres Geräusch zu hören, etwas, das wie das Ausstoßen von Flammen klag.

Äußerst widerwillig ließ der Drache von seiner Beute ab und erhob sich.

Da! Weit entfernt am Horizont sah er Rauchwolken und vereinzelte Flammen in den Himmel züngeln. Dazwischen blitzte etwas auf, schimmernde Schuppen, flügelschlagende Leiber, wogend wie Wolken.

Fremde Drachen in meinem Revier? Und was machen die da? Es hat den Anschein, dass sie miteinander kämpfen...

Neugierde, wer die Eindringlinge waren, und auch blanker Zorn darüber, dass man es wagte, ungefragt in sein Territorium einzudringen, trieb in vorwärts und er achtete gar nicht darauf, dass er sich beständig jener großen bewaldeten Fläche näherte, von der er einst geschworen hatte, sich fern zu halten.

Schon bald konnte er Genaueres erkennen. Es handelte sich um drei Artgenossen, die miteinander in Fehde lagen, silbern glitzernde Schuppen wirbelten im Sonnenlicht zwischen Feuer und ölig schwarzem Rauch.

Der revieransässige Drache verlangsamte seinen Flug und verfolgte das Drama, das sich über den Baumwipfeln abspielte. Alle drei waren Silberdrachen und die beiden Größeren traktierten den Kleinsten von ihnen. Dessen Schreie waren es auch, die immer noch zu vernehmen waren.

Ein vertrauter Geruch erreichte die Nüstern des Neuankömmlings und es bestätige seine Vermutung, dass es sich bei dem attackierten Geschöpf um eine Drachin handelte, und, soweit er es beurteilen konnte, war sie paarungsbereit. Das hätte auch die Aggressivität der beiden größeren Drachen erklärt, nicht aber die Tatsache, dass sie nicht untereinander um die Gunst des Weibchens stritten, sondern diese immer wieder angriffen mit Klauen, Zähnen und auch Feuergarben.

Blut quoll aus zahlreichen Wunden, die der Drachin zugefügt worden waren, und die beiden ledernen Flugmembranen wiesen etliche Risse und Brandlöcher auf. Sie konnte sich nur noch mit Mühe und Not in der Luft halten und dem heraneilenden Drachen war klar, dass sie ohne Unterstützung verloren war. Gerade peitschte die Schweifspitze eines Angreifers gegen ihre Brust und das Geräusch berstender Schuppen war weithin zu hören. Doch die Drachin schlug sich tapfer in diesem ungleichen Kampf und trieb mit einem gleißenden Gluthauch ihre Peiniger zurück. Diese formierten sich jedoch sofort aufs Neue und griffen wiederum an.

Auf diese Weise wogte der Kampf hin und her. Aber niemand von ihnen nahm Notiz von dem sich stetig nähernden Drachen, dessen Kampfeslust nun ebenfalls voll angestachelt war: Nicht nur, dass sich dieses Gesindel erdreistet hatte, in sein Territorium einzudringen, nein, sie bedrängten nun auch eine Drachin, seine Drachin, die er liebte und die für ihn das Wichtigste auf der Welt war.

Diese Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl und sein Herz verzehrte sich nach dieser Drachin, diesem schutzbedürftigen Geschöpf, das Wunderbarste und Edelste was seine Drachenaugen jemals erblicken durften.

Seine Gedanken überschlugen sich: Wie hatte er ohne ihre Nähe überhaupt leben können? Er war ihr schon einmal begegnet, vor - wie es ihm schien - unendlich langer Zeit. Er hatte eine vage Erinnerung daran, wie ein verblasster Traum. Eine Erinnerung an ein Schimmern wie von flüssigem Silber...

Aber das spielte nun alles keine Rolle mehr, denn nun hatte er sie wieder gefunden. Sie war sein Herzblut, sein Leben. Sie würden für immer zusammen sein, sich lieben, in guten wie in schlechten Tagen. Für immer, jetzt gleich, er musste nur noch die beiden Rivalen bezwingen...

Wild entschlossen stürzte er sich in das Getümmel, schlug mit Schweif und Klauen und spie Feuer. Er hörte Knochen brechen und spürte heißes Blut gegen seine Schuppen spritzen. Doch Augen hatte er nur für sie, seine Liebe, für die sich jeder Kampf lohnte, für die er sein Leben geben würde.

Nichts mehr anderes hatte er im Sinn, er ließ sie keine Sekunden aus den Augen, während er Hiebe austeilte und einsteckte.

Plötzlich geriet die Drachin ins Trudeln und mit einem schrillen Schrei stürzte sie in die Tiefe.

Die beiden Rivalen waren mit einem Schlag für ihn bedeutungslos geworden.

Ihm fiel weder auf, dass ihm die Angreifer nicht weiter folgten, noch dass er in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den Wald unter ihnen zuraste.

Es ging alles blitzschnell, doch für ihn schien die Zeit still zu stehen.

Endlich hatte er sie eingeholt, griff mit den Vordertatzen nach ihr, um ihren unkontrollierten Fall zu bremsen.

„Ich bin bei Dir. Ich fange Dich auf!" rief er und tauchte unter ihren geschundenen Leib.

Er stöhnte auf, als er seinen Körper unter die Drachin stemmte, fühlte ihr warmes Blut seine Schuppen benetzen und sich mit dem eigenen vermengen. Schließlich hatte er sie stabilisiert und brachte sie huckepack auf einer großen Waldlichtung zu Boden. Vorsichtig setzte er sie ab und warf ihr einen besorgten Blick zu.

Nichts schien dem Drachen mehr wichtig, er wusste nicht, wo sie sich befanden, es gab keine Spur von seinen beiden Rivalen, die die Drachin attackiert hatten. Sie war bei ihm und er war bei ihr, das war das einzige, was wirklich zählte.

Ihm fiel auch nicht weiter auf, dass sich ihre Wunden wie von Geisterhand schlossen und wie sich die Membranen ihrer geschundenen Schwingen regenerierten.

Er hatte nur noch Augen für ihre Schönheit und ihr betörender Duft füllte seine Nüstern und weckte sein Verlangen.

Sonnenstrahlen, vielfach gebrochen durch Äste und Blätter der umstehenden Bäume, ließen ihre Schuppen wie flüssiges Quecksilber schimmern und ihre Augen waren tiefblaue Gletscherseen. Ihr Blick bohrte sich in seine Seele, griff nach seinem Herzen und er konnte gar nicht anders, als in ihre Augen zu schauen, sich darin zu verlieren, darin zu ertrinken.

Die Drachin lag völlig reglos und doch war ihr der Drache so nah wie noch nie zuvor. Er wollte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schnauzenspitze drücken, sie hatte ihr Maul in freudiger Erwartung bereits geöffnet, ihre dolchartigen Fänge würden für ihn keine Bedrohung darstellen, schließlich war er keine Beute.

Die Blätter raschelten laut in plötzlichen Windböen und die Welt um den Drachen verfinsterte sich schlagartig, als sich schwere Wolken vor die Sonne schoben.

Oder waren es die beiden anderen Drachen, die nun ihn und die Drachin gefunden hatten und erneut angreifen wollten?

Etwas stimmte nicht. Wie aus einer Trance erwacht schüttelte er sich kurz und blickte wieder zu der Drachin, die immer noch absolut regungslos vor ihm lag. Etwas war anders geworden und zunächst konnte er sich nicht erklären, was es war. Er schnupperte in den Wind und dann fiel ihm auf, dass er die beiden Drachenmännchen überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte, so, als hätte es sie gar nicht gegeben, so, als wären es Trugbilder gewesen.

Der Geruch, den der Wind ihm zutrug, war der des Waldes, erdig und leicht modrig - und immer mehr überlagert durch eine Art geruchlichen Missklangs. Er schien von der Drachin auszugehen, ein zunehmend unangenehm werdender Geruch.

Der Drache schreckte zurück, als der Gestank von Niedertracht und Verrat, von Tod und Verwesung in seine Nüstern drang.

Die Drachin hatte sich aufgerichtet und saß nun auf ihren Hinterbeinen, ihren peitschengleichen Schweif streng um sie herum gewickelt. Von ihr ging ein pulsierendes Licht aus, als ihre Konturen langsam verschwammen.

Immer mehr Wolken schoben sich vor die Sonne, die Waldlichtung versank in Dunkelheit. Die Drachin schrumpfte und der Gestank nahm an Intensität zu. Silberne Schuppen verblassten und glätteten sich, wurden zu blasser Haut. Die Hornstacheln, die ihr anmutiges Gesicht umrahmt hatten, bildeten sich zurück und wurden zu strohblonden Haaren.

Langsam, viel zu langsam, begriff der Drache und er erkannte den Geruch. Es war ein Geruch, den er schon als junger Schlüpfling gelernt hatte zu fürchten, ein Geruch, der mit dem Bösen und der Verderbtheit verbunden war. Denn es gab keine andere Macht auf dieser Welt, die zerstörerischer und rücksichtsloser war als das Menschengeschlecht.

Der Menschengeruch ließ ihn würgen und er wollte nur noch eines, fort.

Er breitete seine Flügel aus und wollte mit einem gewaltigen Satz sich in die Luft erheben, doch wurde er beengt. Die Bäume hatten ein Eigenleben entwickelt und standen so dicht bei einander, wo eben noch die Lichtung gewesen war. Die letzten Sonnenstrahlen waren verschlungen und es gab nur noch Bäume um ihn herum und Dunkelheit - und in diesem Chaos stand, grauenvoll und Tod verheißend, eine Menschengestalt. Sie streckte ihre Hände aus nach ihm und er spürte, wie eisige Kälte nach seinem Körper, nach seiner Seele griff.

Er wehrte sich dagegen nach Leibeskräften, suchte nach seinem inneren Feuer, um dieses Ungetüm vor ihm in Flammen zu hüllen, doch es war erloschen und er würgte nur einige kleinere Rauchschwaden hervor.

Angsterfüllt brüllte der Drache auf und sprang nach vorne, an der Bedrohung vorbei in das dichte Gehölz. Zwar hatte er nicht genügend Platz, seine Schwingen zu entfalten, aber unter seinem Ansturm brachen und knickten Stämme wie dürre Äste.

Um ihn herum toste und brauste es und sein Gehirn signalisierte ihm, dass das nicht nur das Geräusch berstenden Holzes und des Windes war, sondern spöttisches Gelächter, boshaft und freudlos. Der Drache wusste, dass dieses Gelächter ihn bis zu seinem Lebensende niemals mehr loslassen würde.

Er lag auf dem Rücken und etwas raschelte unter ihm, die Luft roch nach Fäulnis und Moder. Was war bloß geschehen? Wie lange war er hier gelegen und wo mochte er sein?

Er richtete sich schwerfällig auf. Jede einzelne Faser seines Körpers schmerzte, aber abgesehen von einigen Blessuren, die er sich bei seiner wilden Flucht durch den Wald zugezogen hatte, war er unverletzt.

Er verspürte in seinem Inneren immer noch ein Gefühl der Klammheit und Kälteschauer beutelten seinen Körper.

Der Drache schüttelte sich und blickte sich sorgfältig um. Es stand für ihn außer Frage, dass er sich mitten im Fhìr-Gaou befand und ihm wurde nun auch klar, warum dieser als der Seelenfressende Wald bezeichnet wurde. Er hatte tatsächlich das Gefühl, dass ein Teil seiner selbst gestorben war und er ärgerte sich über seine Naivität, mit der er in die Falle geraten war. Niedere Instinkte, der Wunsch, sich mit jener wunderschönen Drachin zu paaren, hatten ihn hierher gebracht. Auch wenn er vordergründig Eindringlinge aus seinem Revier vertreiben beziehungsweise einer bedrängten Kreatur zu Hilfe hatte eilen wollen, letztlich war es das Verlangen nach der Drachin gewesen, das seinen Verstand getrübt hatte.

Den Lichtverhältnissen nach zu urteilen, war es später Nachmittag. Dichter Nebeldunst waberte um ihn herum und griff mit seinen feuchten Fingern nach ihm, als wollte er, so wie das Ungetüm selbst, ihm erneut seine Wärme entziehen, die sich nun langsam wieder in seinem Körper ausbreitete.

Der Drache zuckte zusammen, als irgendein Vogel einen hohlen, hohen Ruf ausstieß, gleich einem Drachenjungen, das im Schlummer klagte.

Ansonsten herrschte, bis auf das Geräusch von Wasser, das von einigen Blättern auf den belaubten Waldboden tropfte, absolute Stille.

Er dachte an all die Legenden und Balladen, die er über diesen Wald gehört hatte und vor allem an den zweifach geleisteten und somit auch zweifach gebrochenen Eid gegenüber seinem Vater. Sein Herz wurde ihm schwer, wenngleich sich eine Stimme in ihm regte, dass er die Begegnung mit diesem gestaltwandelnden Ungetüm überlebt hatte und eigentlich froh darüber sein müsste. Vielleicht war dieser Wald doch nicht so gefährlich für einen Drachen, wie man gemeinhin behauptete. Vielleicht war er aber der oder dem Fhìr-Gaou, oder was immer es war, das diesem Ort diese Bezeichnung gab, noch gar nicht begegnet.

Wie dem auch sei. Es war besser, kein Risiko einzugehen und diesen Wald so schnell wie möglich zu verlassen.

Das Problem war nur, er hatte keinerlei Bezugspunkte zur Orientierung. Andererseits, jeder Wald würde einmal einen Waldrand haben und so entschied er sich spontan für eine Richtung.

Leider standen immer noch die Bäume viel zu dicht beieinander als dass er hätte in die Luft aufsteigen können.

Er kam nur langsam vorwärts, immer wieder sanken seine Pfoten ein in faulige Pfützen und Morast. Seine sichelartigen Krallen gaben ihm auf diesem Untergrund keinen wirklichen Halt. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und das Licht wurde weniger. Bald schon würde das Dunkel der Nacht über den Wald hereinbrechen und der Drache legte keinen Wert darauf, zu diesem Zeitpunkt noch hier zu sein.

Der Fäulnisgestank von Schlamm und totem Baumwerk füllte seine Nüstern, an seine Ohren drang immer wieder das Rascheln und Schleifen von irgendwelchen Lebewesen, die im Unterholz krochen oder sprangen.

Missmutig grollte der Drache, als er Wasser unter sich spürte, unangenehm kalt. Doch war es keine der zahllosen Pfützen, in die er andauernd versehentlich trat, sondern ein kleiner Fluss, der träge durch den düsteren Wald plätscherte.

Der Drache blickte erst flussaufwärts, dann auch der Strömung folgend und entdeckte schließlich zu seiner großen Freude eine Stelle, die es ihm ermöglichen sollte, fliegend diesen Wald verlassen zu können. Bald würde er in seiner gemütlichen Höhle sein und dann alles daran setzen, die vergangenen Stunden aus seinem Gedächtnis zu tilgen.

Das Schilf, das an beiden Flussufern im feuchten Wind wogte, zog sich hin bis zu den Bäumen. Das Murmeln des Wassers zusammen mit dem Rascheln des Röhrichts wurde zu einem bösen und unheilvollen Geflüster, das dem Drachen einen kalten Schauder über seine Rückenschuppen jagte.

Unbewusst faltete er seine Flügel wieder zusammen und in ihm breitete sich das Gefühl grenzenloser Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aus. Im dahinplätschernden Wasser sah er seine Hoffnung flussabwärts ziehen. Er würde sich hier einfach hinsetzen und warten, was geschehen würde. Weshalb sollte er in seine Höhle zurückkehren wollen? Dort würde nur Einsamkeit sein Begleiter sein, denn er hatte die Liebe seines Lebens gesehen und sie für immer verloren. Das Bild jener wunderschönen Silberdrachin manifestierte sich in seinem Kopf und löschte alle andere Gedanken aus.

Eher aus dem Unterbewusstsein heraus nahm er eine Bewegung im Schilf ein kleines Stück von ihm entfernt flussabwärts wahr.

Der Drache schüttelte seinen Kopf und es gelang ihm schließlich, seine Gedanken wieder vollständig auf seine Umgebung zu konzentrieren. Er entdeckte jemanden zwischen den Schilfrohren im Wasser hocken und zu seiner Überraschung schien es sich um einen Drachen zu handeln. Doch sah dieser Drache anders aus als alle anderen, denen er in seinem bisherigen Leben begegnet war.

Einen bangen Augenblick lang befürchtete er, sein grimmiger Verfolger hätte ihm hier aufgelauert, denn das Wesen sah aus wie irgendein Zweibeiner, der sich eilig eine fremde Drachenhaut übergezogen hatte. Aber es handelte sich tatsächlich bloß um einen von Natur aus aufrecht gehenden, humanoiden Drachen, dessen Vordertatzen sich zu Händen entwickelt hatten, der einfach da saß in der Nebeldämmerung und in dem Gewässer angelte. Zahlreiche Mythen rankten sich um diese Art anthropomorpher Drachen, die vor Urzeiten aus magischen Verbindungen zwischen Drachen und Menschen hervorgegangen waren.

Die Gegenwart des Drachens schien den Angler nicht zu stören, falls er ihn überhaupt bemerkt hatte.

Der Drache schnupperte in seine Richtung, aber seine Nüstern konnten nur den Geruch von Moder und Fäulnis und dem alles dominierenden Gestank von verrottendem Fisch ausmachen. Das Wesen selbst schien über keinen Eigengeruch zu verfügen, es sei denn, der Fischgestank ging von ihm aus.

Mit der ausgestreckten Angelrute glich das Geschöpf einem abgestorbenen Baum glich, der seine Äste in stummer Verzweiflung über das Wasser reckte.

Langsam schwand das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, denn jetzt war er zumindest nicht mehr ganz allein an diesem unheimlichen Ort. Vielleicht wusste dieser Beinahe-Artgenosse sogar den Weg hinaus aus diesem unheilvollen Wald.

Beherzt wandte sich der Drache an den Angler: „Ich grüße Dich. Beißen die Fische gut an dieser Stelle?"

Ganz langsam erhob sich der Angesprochene und wandte sich um. Mit einem unheimlichen Grinsen legte er die Angelrute ab und streckte seine Arme nach dem Drachen aus.

„Bei Nebel und Regen ist es für mich stets eine besonders glückliche Zeit. Doch sind es nicht nur diese Fische hier, die mir als Nahrung dienen."

Auch wenn es der Drache gar nicht wollte, aber unwillkürlich folgte sein Blick der Geste, die das Geschöpf mit einer Hand machte. In einem großen Bottich zappelte und wimmelte es silbergrau: Aale mit flaumartigen Flossen, dazwischen ein paar glotzäugige Karpfen.

Der Drache konnte seinen Augen kaum trauen, als er auch eine Wassernatter darin erblickte.

„Weißt Du, mein edler geschuppter Freund", flüsterte das Wesen unheilvoll und Kälte breitete sich im Drachenkörper aus, „ihre Knorpel krachen so schön beim Kauen. Doch lange nicht so herrlich wie es die Schuppen eines Drachens tun."

Trotz dieser Worte war der Drache nicht mehr in der Lage, auch nur eine Faser seines Körpers zu bewegen. Gebannt blickte er auf dieses geschuppte, humanoide Wesen vor ihm, das sich langsam verformte gleich flüssiger Lava und einen silbernen Glanz annahm.

Er wusste nicht, ob er nun wirklich wieder jener Silberdrachin gegenüberstand oder ob ihm bloß seine Erinnerung einen Streich spielte. Doch bevor er überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen konnte, verwandelte sich die Gestalt vor ihm erneut.

„Mein Freund, Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass Du meinen Wald verlassen könntest, nicht wahr? Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass Du mir entkommen würdest, oder?"

Der Drache verharrte regungslos, die Worte dieses Wesens perlten an ihm ab wie Regentropfen von seinen Schuppen. Sie waren bedeutungslos geworden.

„Du musst wissen, mein dummer, unerfahrener Freund. Jedes lebende Geschöpf, das diesen Wald je betrat, wurde um genau dieses Leben gebracht. Und jedes lebende Geschöpf, das diesen Wald je betreten wird, wird um genau dieses Leben gebracht werden. Das ist die Natur dieses Waldes, das ist die Natur vom Fhìr-Gaou, das ist die Natur von mir, denn ich lebe von dem Leben der Anderen..."

Der Drache hatte das Gefühl, als würde flüssiges Eis in seinem Körper seine Organe umschließen. Seine Kehle brannte trocken und sein Blick trübte sich. Eisige Taubheit ummantelte ihn, als alle Wärme seinen Leib verließ und seine Seele in ewigem Frost vereiste.

Gierig wurde sie ihm entrissen und es war das Geräusch berstenden Eises, das für einige Augenblicke die unheimliche Stille des Waldes durchbrach.

ENDE